Verhaltensbiologen haben den ersten unter natürlichen Bedingungen durchgeführten Nachweis erbracht, dass grössere Fischschwärme Entscheidungen nicht nur schneller, sondern auch besser treffen können.
factum-Redaktion
22. Oktober 2025

Greift ein Raubvogel an, zählt für Fische jede Sekunde: abtauchen oder bleiben? Eine falsche Entscheidung kann tödlich enden – entweder, weil sie zu spät kommt oder weil eine Bedrohung fälschlicherweise als harmloses Geräusch gewertet wird. Eine Studie1 von Forschern des Exzellenzclusters «Science of Intelligence» (SCIoI) sowie der Humboldt-Universität zu Berlin und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei zeigt nun, dass grosse Tiergruppen zwei Zielkonflikte überwinden können: echte Gefahren erkennen, ohne auf jede Störung zu reagieren und schnelle Entscheidungen treffen, ohne dabei an Genauigkeit zu verlieren.

Für ihre Studie untersuchten sie Schwärme von Schwefelfischen (Poecilia sulphuraria), die in den heissen, schwefelhaltigen Quellen des Flusses El Azufre im mexikanischen Bundesstaat Tabasco leben und deren Abwehrstrategie besonders interessant ist. Sobald ein Schwarm eine potenzielle Gefahr wahrnimmt, tauchen die Fische synchron ab und erzeugen dabei nach aussen sichtbare Wellenmuster auf der Wasseroberfläche – vergleichbar mit La-Ola-Wellen. Handelt es sich tatsächlich um einen Angriff, folgt eine Serie weiterer «Wellen-Tauchgänge». Ist der Reiz harmlos, bleibt es bei einem einmaligen Abtauchen. Bei ihren über zweihundert dokumentierten Ereignissen verglichen die Wissenschaftler das Verhalten der Schwärme bei echten Angriffen und bei harmlosen Vogelüberflügen. Ihr Fokus lag dabei auf dem Kiskadee, einem für die Fische besonders schwer zu erkennenden Raubvogel.

Das Ergebnis: Grössere Schwärme konnten deutlich besser zwischen realer Gefahr und Fehlalarm unterscheiden. Während die Reaktionen auf echte Bedrohungen mit der Gruppengrösse zunahm, blieben die Reaktionen auf harmlose Reize konstant. Die Schwärme wurden also nicht sensibler, sondern präziser. Eine echte Qualitätssteigerung in der Entscheidungsfindung. «In den grössten Schwärmen waren die Erkennungsraten fast perfekt, nahezu 100 Prozent der Kiskadee-Angriffe wurden korrekt identifiziert», erklärt Studienleiter Korbinian Pacher. «Das wäre für einen Einzelfisch schlicht unmöglich.»

Bisherige Modelle erklären Gruppenentscheidungen oft mit sogenannten Quorum-Regeln: Ein Tier reagiert erst, wenn eine bestimmte Zahl an Artgenossen ebenfalls reagiert. Doch bei Schwärmen mit zehn- oder gar hunderttausenden Fischen ist das unwahrscheinlich. Stattdessen vermuten die Forscher einen selbstorganisierten, komplexeren Mechanismus – vergleichbar mit einem neuronalen Netzwerk. Die Fische «könnten in einem Zustand operieren, den wir ‹Kritikalität› nennen – ein Zustand, der in grossen Systemen wie dem Gehirn oder auch Menschenmengen die Informationsverarbeitung optimiert», so Pacher. Die Studie liefert somit überzeugende Hinweise, dass Tiergruppen unter realen Bedingungen mehr sind als die Summe ihrer Teile. Pacher: «Diese Fische lösen gemeinsam ein schwieriges Problem – und sie machen das besser, als wir es für möglich gehalten hätten.»

1    https://doi.org/10.1126/sciadv.adt8600

Meldung aus factum 05/2025