Mit Winnetou ist auch der Schriftsteller Karl May in den Sog der Cancel Culture geraten. Die Vorwürfe gehen ignorant an den Tatsachen vorbei. Anmerkungen zu einer absurden Debatte.
Werner Thiede
17. Oktober 2022

Erst im Februar feierte Karl Mays Anhängerschaft seinen 180. Geburtstag. Aller Erfolg – die Auflage seiner Werke beträgt weltweit wohl über 200 Millionen – reichte aber nicht hin, die Deutsche Post zu überzeugen, ihn anlässlich seines 100. Todestags am 30. März 2012 mit einer Briefmarke zu würdigen. Das dürfte damit zusammenhängen, dass immer noch Halbwahrheiten um seine Vergangenheit als angeblicher «Räuberhauptmann» und «Schwerkrimineller» kursieren. Scharfe, allzu einseitige Polemik im letzten Jahrzehnt seines Lebens hat bis heute überdauert – und dazu beigetragen, dass Person und Werk in der breiten Öffentlichkeit bis heute oft nicht angemessen gewürdigt, sondern verkannt werden. Entsprechendes geschieht aktuell mit seiner wichtigsten Romanfigur, dem Apachenhäuptling Winnetou. Diese Gestalt, die immerhin zum 75. Todestag Karl Mays auf einer deutschen Briefmarke erschien, und die mit ihr verbundenen Geschichten bedienen angeblich rassistische Klischees und verklären die historische Wirklichkeit – so die Vorwürfe im Zusammenhang des neuen Kinofilms und Kinderbuchs «Der junge Häuptling Winnetou».

Bekanntlich müssen aber Romane als literarische Kunstwerke keineswegs die historische Wirklichkeit abbilden. Vielmehr wäre es notwendig, dass laut werdende Kritik selbst die historische Wirklichkeit ernst nimmt – und die sieht nun einmal so aus, dass Winnetou und Old Shatterhand Idole ganzer Generationen waren. So nannte beispielsweise der grosse deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer seine Tochter «Winnetou». Zur historischen Wirklichkeit gehört auch, sich nicht etwa an Kinofilmen zu orientieren, sondern die vier Winnetou-Romane im Original ernstzunehmen. Wahrscheinlich kennt keiner der Kritiker jene Urfassungen mit dem Untertitel «Der rote Gentleman», insbesondere weder die frühen Wandlungen dieser Romanfigur noch ihre späte Verklärung in Mays allerletztem Roman «Winnetou IV» (1909, später «Winnetous Erben» betitelt).

Die Debatte nimmt tatsächlich absurde Züge an. Die wissenschaftlich orientierte Karl-May-Gesellschaft liess klarstellend verlauten: «Die zeitbedingte Weltsicht teilt Karl May mit praktisch allen Autorinnen und Autoren der Vergangenheit.» Doch die Besonderheit Mays bestehe darin, dass in seiner Darstellung des «Wilden Westens» von Anfang an die Sympathie des Erzählers der leidenden indigenen Bevölkerung gegolten habe: Deren Würde und menschlichen Qualitäten verkörperten sich in Idealfiguren wie Winnetou, und die tragische Vernichtung ihrer materiellen und kulturellen Existenz liege allen Nordamerika-Erzählungen Mays zugrunde. Tatsächlich zeigt sich das in den Romanen weit deutlicher noch als in den späteren Verfilmungen.

Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 06/2022