Sandwespen verfügen über äusserst ausgeklügelte Fortpflanzungsstrategien. Sie können nur überleben, wenn alles von Beginn an perfekt abgestimmt ist. Woher haben die Insekten ihre Kunst?
Matthias Mross
15. September 2024

Unser letzter Urlaubstag in der Provence – es war der 1. Juni dieses Jahres, die Sonne schien und es duftete nach Thymian und Ginster – bescherte uns ein kleines Abenteuer. Wir hatten im Tal ein paar Einkäufe erledigt und schritten nun bedächtig den Wanderweg hinauf – da kam uns von oben eine Sandwespe entgegenmarschiert. An und für sich ist das nichts Besonderes. Dieses Insekt ist in Europa weit verbreitet und dank seines langgestreckten Körperbaus leicht bestimmbar. Wir sahen deutlich sein verjüngtes Hinterleibssegment, das wie ein Stiel Brust und Hinterleib verbindet und sowohl hellrot wie auch metallisch schwarz leuchtet. Ansonsten schimmerte das Tier metallisch Schwarz. Vermutlich handelte es sich um die Behaarte Kurzstiel-Sandwespe (Podalonia hirsuta).

Was für ein Schauspiel

Dass wir unsere Wanderung unterbrachen und die nächste halbe Stunde nichts anderes taten, als gebannt zu Boden zu blicken, lag an dem, was die Wespe mit sich trug: eine Raupe, weiss, dick und um einiges länger als sie selbst. Zielstrebig krabbelte sie damit den steinigen Weg entlang, überwand behänd alle Hindernisse. Weitere Details erkannten wir, als wir uns bückten – so etwa, dass die Wespe den schweren Brocken mit ihren zangenförmigen Mundwerkzeugen umklammerte. Störte sie unsere Anwesenheit? Auf einmal liess sie die Last liegen, flog dicht über dem Boden ein paar Meter weiter, um dort zu Fuss ihre Kreise zu ziehen. Währenddessen lag die Raupe unbeweglich da.

«Die ist tot», meinte meine Frau. «Ich glaube, wir können aufbrechen.» Doch noch bevor wir unsere Rucksäcke geschultert hatten, kam die Wespe zurückgeflogen und landete ganz in der Nähe der Raupe. Wo genau lag sie? Die Wespe ging suchend hin und her. Ein paar Mal verfehlte sie ihre Beute nur um wenige Zentimeter. Aber sie liess nicht locker, und bald war sie wieder über ihr und klemmte sie sich unter den Leib. Weiter ging’s!

Ein paar Minuten später wurde die Raupe erneut zurückgelassen. Ich sah, dass die Wespe zu einem Loch flog, das sie kurz zuvor in den Boden gegraben haben musste. Sie machte sich daran zu schaffen, schob etwas auf die Seite, um den Eingang frei zu legen, kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Dann flog sie zurück zu ihrem Schatz, fand ihn diesmal fast auf Anhieb wieder, und transportierte ihn die verbleibenden anderthalb Meter ohne weitere Unterbrechung zum Locheingang.
Es blieb mir nicht viel Zeit, über den Orientierungssinn dieses Tieres zu staunen, aus dessen Perspektive die Umgebung des Loches bestimmt wie eine eintönige Steinwüste aussah. Ich stand darüber und beobachtete, wie die Wespe mit dem Kopf voran durch den Eingang kroch – und nach kurzer Zeit den Kopf wieder herausstreckte. Es musste sich da unten also ein Hohlraum befinden, in dem sie ihren Leib gedreht hatte. Nun ergriff sie mit den Mundwerkzeugen die bereitliegende Raupe, zog sie Zentimeter für Zentimeter in die Tiefe, bis nichts mehr von ihr zu sehen war.

Wir blieben in der Hitze stehen, warteten, was weiter passieren würde. Nach zwei, drei Minuten kam die Wespe wieder hervor – ohne Raupe. Sie ging nun daran, den Eingang zu verschliessen, indem sie Erde und anderes Material darüber scharrte. In der näheren Umgebung sammelte die Wespe Steinchen auf, die sie im Abstand von wenigen Zentimetern um das Loch legte. Zu schwere Exemplare liess sie wieder fallen. Die Wespe arbeitete hektisch, ging dabei aber sehr gründlich vor. Der Aushub, der durch die Grabarbeiten entstanden war, war bald völlig bedeckt und nicht mehr zu erkennen. Dennoch schleppte das besorgte Tier weiter Material herbei, manchmal auch ein Stöcklein oder Zweiglein. Wer sollte jetzt noch ahnen, dass sich hier etwas unter der Erde verbarg? Die Flurbereinigungsarbeiten dauerten etwa 15 Minuten, dann flog die Wespe ein für alle Mal davon.

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