
80 Jahre ist es her seit dem Ende jenes wahnwitzigen Fiebertraums eines Volkes, im Zuge dessen ein wirtschaftlich, monetär und moralisch bankrottes Land sich nicht nur «Boden» verschaffen wollte, sondern sich auch zur Nation der Herrenmenschen berufen fühlte. Koste es, was es wolle. Dass diesen Gräueln nach der umfassenden Niederlage des Nazi-Regimes ein ernsthaftes und erschüttertes «Nie wieder!» wie ein Stauwehr entgegengehalten wurde und noch heute entgegengehalten wird, kann niemanden erstaunen. Und während jüngst in Polen der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ohne die Opfer und ohne die politischen Nachfolger der Befreier gedacht wird, während in manchem Herzen das «Nie wieder!» mit neuer Kraft und neuer Entschlossenheit gesprochen und geschworen wird, gärt daneben und gleichzeitig jene Kraft, die zu dem Fiebertraum geführt hatte. Lassen Sie mich hier den Versuch antreten, zu erklären, was ich damit meine, und warum ich es gerade in unserer Zeit für nötig halte, diesen Aspekt des Erinnerns als Mahnung in den Mittelpunkt zu stellen.
Hölle von Schmerz und Hass
Die Bilder von der Freilassung der israelischen Geiseln durch die Hamas gingen um die Welt. Israel musste jede teuer bezahlen mit der Freilassung von Häftlingen, deren oberstes Ziel und Lebenssinn die Vernichtung der Juden und ihres Staates ist. Dass viele Medien auch diese Männer «Geiseln» nannten, machte die Sache noch schwieriger anzusehen. Besonders in Erinnerung bleibt die Freilassung vom 8. Februar 2025, einem Sabbat, als nach 491 Tagen Gefangenschaft ein Tausch drei gegen 183 stattfand. Freigelassen wurden Ohad Ben Ami, Or Levy und Eli Scharabi. Allesamt blass und abgemagert wurden die drei Männer auf einer Bühne in einer Art Zeremonie mit Musik, Salven aus Maschinenpistolen und Entlassungsurkunden in einem Akt maximalen Hohns der Welt vorgeführt. Aber das war nicht das Schlimmste. Dieses war, die Freude und Erleichterung Eli Scharabis zu sehen, der Berichten zufolge zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass seine Frau und seine zwei Töchter nicht mehr am Leben waren.
Die sozialen Medien, so gross die Gefahr ist, die bereits heute von ihnen ausgeht, und die das Potenzial haben, sich in den nächsten Jahren als Instrument einer Technokratie zu entpuppen, die wir uns in unseren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, haben doch auch ihr Gutes. Zum Beispiel dieses, dass sie es sogar einem Laien ermöglichen, Trends und Stimmungen im öffentlichen Raum zu erkennen. Zu sehen, was die Leute in den jeweiligen «Blasen» bewegt, empört, freut. Was ihnen Hoffnung macht, was sie frustriert, was sie sich wünschen und wie sie ihre Mitmenschen sehen. Wo ein Tweet den Finger punktgenau auf eine Wunde legt oder den Nagel auf den Kopf trifft, da sind die meisten «Likes» zu finden. Im Rahmen der Geiselfreilassung vom 8. Februar waren dies die Texte, die die Hamas als «Monster» bezeichneten.
Wenn ich mir vorstelle, meinen Neffen, meinem Bruder oder seiner Frau wäre solches widerfahren wie den Familien in Israel – ich habe keine Ahnung, was das mit mir machen würde. Was ich aber weiss, ist dieses: Ich kann nicht grenzenlos hassen und auf Rache sinnen und gleichzeitig den Gott der Bibel anbeten. Entweder das eine oder das andere. Beides zusammen ist eine Unmöglichkeit. Denn Sein Wort ist klar: Die Rache ist mein. Und: Er hasst die Sünde, nie den Sünder. Das sind schwere Brocken und ich glaube, dass ein Mensch, ausgestattet mit nichts als seiner Vernunft, sie nicht schlucken kann. Nur durch Gnade und das Wirken des Heiligen Geistes ist in dieser Hölle von Schmerz und Hass, der uns sicher in den äussersten Zweifel führen würde, auch der äusserte Glaube möglich. Fernab von menschlicher Kasuistik, weit über aller Vernunft, ja sogar weit ausserhalb des Menschenmöglichen.
Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 03/2025