Christen sollten nicht vorschnell als Grund für das Leid eines Menschen eine «unbewältigte Schuld» anführen. Es gibt auch viel unverdientes Leid. Nachfolge kann auch bedeuten, Leiden zu ertragen.
Roman Nies
30. November 2015

Christliche Seelsorger fragen bei ratsuchenden Menschen oft zuerst nach der Sünde im Leben, nach der «unbereuten Ursache» des Scheiterns. Man könnte sich das Bild eines solchen Seelsorgers vor dem am Kreuz hängenden Jesus vorstellen, wie er seufzend und mitleidig zu Jesus sagt: «Warum hast du dich nicht früher zu einem Therapiegespräch an mich gewandt? Dann hingest du jetzt nicht da! Wir hätten schon die Ursache deiner Gottverlassenheit, deine Sünde, gefunden.» Sah es nicht so aus, als sei dieser «Prophet» und «Messias» kläglich gescheitert?

Vielen Christen geht es ähnlich. Wenn bei jemandem etwas nicht stimmt, dann denken sie, das liege sicherlich an seinem Lebenswandel, an unbewältigter Vergangenheit, an Unbussfertigkeit. Das mag auch stimmen, weshalb Seelsorge, die hier versucht anzusetzen, sinnvoll sein kann. Aber die Formel «Wer gottgefällig lebt, erfährt Segnungen. Wer es nicht tut, dem geht es schlecht» stimmt nur bedingt und oft genug gar nicht. Das prominenteste Beispiel ist Jesus selber. Und bei Ihm spotteten die Menschen: «Hättest du dich nicht selbst erhöht, zum Gottessohn, wärst du jetzt nicht auf diese Art ans Kreuz erhöht!» Die Wirklichkeit war das genaue Gegenteil, Jesus hat sich erniedrigt zum Menschensohn und wurde nicht zur Strafe Seiner Missetaten gekreuzigt, sondern Er gab freiwillig Sein Leben hin. Er, der Sündlose, nahm die Missetaten aller anderer auf sich, aus Liebe, um sie zu retten.

Und deshalb müssen wir aufpassen, was wir unseren Mitmenschen unterstellen. Wir sagen: «Der lebt in Scheidung, ... da muss er vieles in der Ehe falsch gemacht haben!» und postulieren dabei vielleicht noch selbstgefällig: «Mir kann das nicht passieren, denn ich bin ein anständiger Christ! Ich weiss, was sich gehört!» Und natürlich war man klug genug, alles richtig zu machen. Man dichtet sich dabei jedoch eigene Werkgerechtigkeit zu und übersieht, dass auch eine glückliche Ehe eine Gnadengabe Gottes ist.

Ich persönlich kenne etliche Menschen, die ein so schweres Los zu tragen haben, dass ich mir gar nicht ausdenken kann, was man als Mensch alles «leisten» muss an Untaten, um das «verdient» zu haben. Das heisst, es gibt viel unverdientes Leid in dieser Welt. Und wegen der Machtlosigkeit und irdischen Begrenztheit des Menschen kann nur Gott, der Herr über Zeit und Raum und allem, was darinnen ist, etwas daran ändern. Tatsächlich macht Er im Buch der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel, eine erstaunliche Zusage. Gott wird bei den Menschen wohnen (Off. 21,3). Da hat dann auch alles Scheitern ein Ende, einschliesslich den Folgen des Scheiterns, denn: «Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.» Tod, Trauer, Geschrei und Schmerz – das kann man als Zusammenfassung von alledem bezeichnen, was den Menschen vom wahren Glück abhält. Man muss also zu diesem Gott hin, in dessen Nähe alles Scheitern und Unglück einmal vergessen sein wird.

Dieser Weg zu Gott führt über die Anerkennung des Kreuzes Christi.

(Artikelauszug aus factum 08/2015)