Es scheine, als ob der Kriegszug keine Bremsen habe und der Lokführer verrückt geworden sei. «Heute sind die Kriegsbefürworter unter den Führenden in der Mehrheit», so Orban in seiner messerscharfen Analyse. Er hat recht: Der französische Präsident Emmanuel Macron bekräftigte im Mai, dass er die Entsendung westlicher Bodentruppen in die Ukraine nicht ausschliesst. Auch wenn der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (noch?) dagegen hält, gibt es in der NATO zunehmend Befürworter. Roger Köppel, Verleger der Weltwoche: «Zuerst wollte man nur Helme, Schutzwesten, Gewehre oder Munition in die Ukraine schicken. Zwei Jahre später sind wir bei Panzern, Kanonen, Raketen, Kampfjets, Marschflugkörpern, Militärberatern und Söldnertruppen.» So kamen im Juni bei einem Angriff auf eine Militäreinrichtung in der russischen Region Belgorod, etwa dreissig Kilometer von der Grenze entfernt, tatsächlich Himars-Raketen aus den USA zum Einsatz. Der Westen hatte den Einsatz derselben kurz zuvor genehmigt, allerdings «nur» in russischen Grenzgebieten zur Ukraine und ausschliesslich zu Verteidigungszwecken. «Die Vertreter der NATO-Staaten, vor allem in Europa, (...) sollten sich darüber im Klaren sein, womit sie da spielen», kommentierte Russlands Präsident Wladimir Putin die Aussagen von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wonach die Ukraine das Recht habe, russisches Staatsgebiet anzugreifen.
Ein Vergleich der militärischen Kräfteverhältnisse zeigt, dass die Ukraine einen Abnutzungskrieg gegen Russland, wie er zu beobachten ist, nicht gewinnen kann. «Seit dem russischen Überfall im Februar 2022 hat der Westen der Ukraine immer das gegeben, was sie brauchte, um kämpfen, aber nicht, um siegen zu können», bilanziert Marco Seliger, sicherheitspolitischer Redaktor der NZZ. Aus dem gleichen Grund, aus dem die Ukraine den Krieg gegen Russland nicht gewinnen kann, wird Russland es kaum wagen, ein NATO-Land anzugreifen, auch wenn westliche Politiker nicht müde werden, das Gegenteil zu behaupten. Gibt es wirklich Aussagen von Putin, die belegen, dass er Europa «erobern» will? Mir sind keine bekannt; ich lasse mich aber eines Besseren belehren. Eher könnten es sich die NATO-Staaten leisten, Russland anzugreifen und zu besiegen, obschon Russland über das weltweit grösste Atomwaffenarsenal verfügt. Der ehemalige NATO-General Harald Kujat ist der Ansicht, dass die USA zwar «durchaus vorsichtig» eskalieren würden, nicht so Europa. Er sei sehr skeptisch, dass die Regierungen in Deutschland, Frankreich und den USA von ihrem Schlachtross herabstiegen. «Ich habe die ganz grosse Befürchtung, dass der Ukraine-Krieg zur Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts wird.» Roger Köppel sieht Europa und die Welt so nahe an einem grossen Krieg wie seit 1945 nicht mehr. «Dass wir in diesen Abgrund blicken, hat sehr viel mit der schwindenden Erinnerung an die Schrecklichkeiten der Vergangenheit zu tun.» Viktor Orban ist überzeugt: «Dieser Krieg hat keine Lösung auf dem Schlachtfeld. Es gibt dort nur Tod und Zerstörung. Es muss einen Waffenstillstand geben, und es muss Verhandlungen geben.» Im April 2022 – wenige Woche nach Ausbruch des Krieges – standen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine in Istanbul kurz vor dem Durchbruch und wurden dann auf Initiative des Westens abgebrochen. Seither sind in der Ukraine Zehn-, wenn nicht Hunderttausende Menschen ums Leben gekommen. Wozu?
Meldung aus factum 04/2024