Bernstein stellt mehr Fragen als sich Antworten finden lassen. Man kann sich weder die grossen Mengen erklären, noch ist klar, wie es so häufig zum Einschluss von Lebewesen kommen konnte.
Philipp Wiens/Thomas Lachnemaier
31. Dezember 2015

Meist ist er honigfarben gelb, tritt aber auch in gelbweissem, orangefarbenem, rotem, grünlichem, braunem oder schwarzem Farbton auf – matt oder glänzend und teilweise transparent. Seine Brennbarkeit gab diesem verfestigten Baumsaft unbekannten Alters seinen Namen: Bernstein, abgeleitet vom mittelniederdeutschen Börn­steen, «Brennstein».

Brennbarkeit ist das untrügliche Kennzeichen seiner Echtheit. Wenn man «Börnsteen» anzündet, verbreitet sich ein harzig-aromatischer Duft. Schonender ist die Identifizierung mittels der Fluoreszenz-Methode: Echter Bernstein leuchtet unter UV-Licht blau-weiss.

Bernstein gibt mehr Rätsel auf, als er preisgibt. Das grösste Rätsel liegt bereits in der schier unglaublichen Menge, in der das Baumharz vorliegt. Weltweit existieren wahrscheinlich Millionen von Tonnen Bernstein, in China zum Beispiel eingebettet in Kohlenflöze. Es gibt ganze Erdschichten aus Bernstein, viele Meter dick. Wie entstanden diese gewaltigen Vorkommen von Baumharz, welches sich auf wundersame Weise in Börnsteen verwandelt und zudem erhalten hat? Was müssen das für Bäume gewesen sein und wie viele muss es davon gegeben haben? Der Harzfluss muss extrem gewesen sein. Man könnte annehmen, dass die Harzmenge sich eben über lange Zeiträume summiert hat. Wie aber kam es zur Kumulierung des Harzes an bestimmten Stellen? Wie konnte ein 68 Kilogramm schweres Bernsteinstück entstehen? Dieser bisher grösste Fund wurde 1991 in Zentral-Sarawak, Indonesien, entdeckt.
Die Bernsteinvorkommen sind so gross, dass das für die Schmuckindustrie wertvolle verfestigte Baumharz sogar unter Tage abgebaut wird. Das Zentrum der wirtschaftlichen Förderung von Bernstein ist Samland in der russischen Exklave Königsberg. Drei Viertel der Weltproduktion stammen von hier. Bernstein wird hier unter Tage gefördert. Hauptfundschicht ist die «Blaue Erde», ein mehrere Meter dicker, grünlich-grauer Ton. Das Kaliningrader Bernsteinkombinat Jantarny fördert jedes Jahr 650 Tonnen, man schätzt, dass allein an dieser Fundstätte noch 600 000 Tonnen in der Erde liegen.

Auch in Bitterfeld, nördlich von Leipzig, wurde von 1974 bis 1993 Bernstein im Untertagebau in grossen Mengen gewonnen. Der begehrte Stoff wird zur Herstellung von Schmuck und Ziergegenständen verwendet. Legendär ist das als «achtes Weltwunder» gerühmte Bernsteinzimmer, ein vollständig mit Bernstein verzierter Raum, ursprünglich ein Geschenk des preussischen Königs an den russischen Zaren. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gilt es als verschollen. Vor zehn Jahren wurde im Katharinenpalast nahe Sankt Petersburg zum 300. Geburtstag der Stadt eine originalgetreue Nachbildung eingeweiht. 1979 hatte die Sowjetunion mit dem Nachbau begonnen, bei dem sechs Tonnen des fossilen Harzes verarbeitet wurden.

Man kann annehmen, dass man nur einen Bruchteil der tatsächlich weltweit vorkommenden Fundstätten kennt, da sie in Erdschichten sind, die tief unter dem Meer liegen. An den Stränden der Ostsee wird Bernstein angeschwemmt, welcher sich an unbekanntem Ort am Meeresgrund aus einer unterseeischen Lagerstätte löst. Wegen seiner geringen Dichte – etwa ein Gramm pro Kubikzentimeter – schwimmt Bernstein in Salzwasser (nicht in Süsswasser). In den Weiten und Tiefen der Weltmeere wird es viele weitere und eventuell grössere Lagerstätten von Bernstein geben. Was hier aber gelöst wird, hat in dem aggressiv-salzigen Meerwasser keine lange Lebensdauer. Der Ostsee-Bernstein wird relativ kurz nach seiner Loslösung an Land entdeckt. Der allergrösste Teil löst sich im Wasser auf. Reichhaltige Fundstätten sind die Küsten Mecklenburgs, Polens und Weissrusslands.

Die Frage ist aber nicht nur, wie solch gewaltige Mengen Baumharz entstehen und sich an bestimmten Orten und in bestimmten Erdschichten konzentrieren konnten. Noch erstaunlicher ist, dass es so viel Bernstein gibt, obwohl das Material in keinster Weise verwitterungsbeständig ist. Wie wahrscheinlich ist der Erhalt von Bernstein aber, da man heute nirgends in der Welt beobachten kann, dass sich Baumharz erhält, konserviert – und zudem Lebewesen einschliesst? Baumharz wird in kürzester Zeit zersetzt, in Humus verwandelt. Dem Baltischen Bernstein, der in unseren Breiten prominent ist und seinen Namen seinem häufigen Vorkommen in der Ostsee verdankt, wird ein Alter von 50 Millionen Jahren zugeschrieben. Das ist ein schönes Alter für ein relativ weiches organisches Material (man kann es leicht mit dem Fingernagel ritzen), welches, einmal der Witterung und damit dem Licht und Luftsauerstoff ausgesetzt, schnell verblasst und verrottet. Auch im Wasser geht das schnell.

Das grösste Geheimnis des Bernsteins liegt aber in seinen «Inklusionen», den häufig darin eingeschlossenen Insekten, Pflanzen und Kristallen. Man mag sich vorstellen (beobachten konnte man es noch nie), dass einmal ein Insekt von einem herabfallenden Tropfen Baumharz eingeschlossen wird. Das wäre sicher ein gewaltiger Zufall. Zufälle gibt es. Aber eine einzige Tonne Bitterfelder Bernstein enthält 4500 tierische Inklusien, Einschlüsse von Lebewesen.

Das sind 4500 Zufälle pro Tonne. Für jeden von ihnen ist die Wahrscheinlichkeit ungleich geringer wie für den sprichwörtlichen Sechser im Lotto. Und dies für Millionen von Tonnen. Nirgends tropft Baumharz in solchen Mengen aus Baumwunden, wie man das für die Zeit der Entstehung von Bernstein annehmen müsste.

Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Insekt stillhält, auf welches Harz tropft? Zumal es sich um fluchtschnelle, wuselige Tiere wie etwa Mücken, Ameisen, Bienen, Spinnen oder Wespen handelt. Es ist anzunehmen, dass es Verwischungen, Beschädigungen, Zerstörungen, Kampfspuren gäbe. Aber die Insekten scheinen artig stillgehalten zu haben, bis das zähflüssige Harz sie umschlossen hat. Das Harz muss zudem in Sekunden ausgehärtet sein. Auch für dieses Aushärten müssen besondere Bedingungen geherrscht haben, andere, als wir sie heute vorfinden. Tropfendes Harz wird nicht hart. Es wird trockener, zäher, dann verwittert es.

Nicht selten sind verschiedene Lebewesen in Bernstein mitten in einer Aktion wie erstarrt, gleichsam schockgefrostet.

(Artikelauszug aus factum 09/2015)