Wer das Geschehen unserer Zeit verstehen will, muss es als historisch wahrnehmen. Ohne den Blick in die Vergangenheit und ohne den Blick auf Jesus und sein Wort bleibt alles rätselhaft.
Thomas Lachenmaier
23. Mai 2016

Dietrich Bonhoeffer hatte einen biblisch geschärften Blick auf seine Zeit. Nicht viele hatten das damals. Die meisten seiner Zeitgenossen waren mit der Wahrnehmung der Ereignisse in den 1930er-Jahren überfordert: Die Wirtschaftsdepression war kaum überstanden, Strassenschlachten zwischen nationalistischen und kommunistischen Gruppierungen, der Zerfall der Ordnung, Angst vor der Zukunft. Die Verunsicherung durch die Geschehnisse zerrte an den Seelen der Menschen, sie wollten einfach wieder ruhige Verhältnisse, eine stabile Ordnung, Sicherheit. In ihrer Orientierungslosigkeit vertraute die Mehrheit aber nicht Gott, suchte Halt in seinem Wort, sondern vertraute dem, der am lautesten klare Verhältnisse versprach: Hitler, in dem sie ihren Erlöser sahen.

Es waren vor allem entschiedene, die Bibel bekennende Christen wie Dietrich Bonhoeffer, gefestigt im Wort Gottes, die den Schrecken sehen, ihn einordnen und dennoch getrost aus dem Jesuswort Vertrauen schöpfen konnten, in dem es heisst:  «In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.» Bonhoeffer wusste, dass er trotz des entsetzlichen Geschehens seiner Zeit, und sogar trotz des Schlimmen, was er auf sich zukommen sah, «von guten Mächten wunderbar geborgen» war. Heute brauchen wir den Dietrich-Bonhoeffer-Blick auf die aktuellen Geschehnisse. Wir sind von guten Mächten wunderbar geborgen.

Die Verunsicherung der Menschen heute entspricht in vielem der Zeit in der Weimarer Republik vor neun Jahrzehnten. Die Menschen spüren, dass sich Grosses bewegt, dass es vorbei ist mit der beschaulichen bürgerlichen Sicherheit, dass es nicht einfach so gut weitergeht, wie es ein halbes Jahrhundert lang der Fall war. Die Zuversicht ist abhandengekommen, der Mensch habe die Dinge «im Griff». Das menschliche Scheitern wird offenbar.

Die Nachrichten verursachen Ratlosigkeit, wie soll man all das verstehen: die arabische Welt in Flammen, das Flüchtlingselend der Millionen, Terror in unseren Städten. Mitten im Wohlstand ist in vielen Familien schlimmer Zerbruch. Gewalt und Lieblosigkeit nehmen zu, nehmen überhand. Das Bild von der Welt, das über die Medien in unser Bewusstsein dringt, ist verwirrend. George Orwell, der Autor des prophetischen Romans «1984», hat in seiner britisch-lakonischen Art einmal vermerkt, was unmittelbar vor der eigenen Nasenspitze ist, sei am schwierigsten zu erkennen, zu verstehen.

Das Bild vom Tagesaktuellen klärt sich aus der Distanz. Die Ereignisse werden klarer gesehen, wenn sie als Ausschnitt aus dem Strom geschichtlichen Geschehens wahrgenommen werden, als Geschichte. Der Blick in die Vergangenheit offenbart den tatsächlichen Charakter dessen, was uns heute verunsichern will. Der Blick in die Zukunft, wie sie uns in der Heiligen Schrift verheissen wird, gibt uns Verständnis, Kraft und Klarheit  für den Tag. Die Bibel, die über Raum und Zeit steht, gibt uns Orientierung und damit Halt, Trost und Zuversicht. Das Wort Gottes beschreibt, erklärt und bewertet das Weltgeschehen von der Vergangenheit bis in die Zukunft, von den ersten Tagen der Menschheit bis in alle künftigen Tage. Im Lichte der Bibel wird auch die Gegenwart verständlich. Jesusnachfolger dürfen sich bei Gott geborgen fühlen – trotz allem.

Was sind die Eckpunkte des Weltgeschehens heute? Welche Ereignisse sind die wichtigsten, haben historischen Stellenwert? Die Nachrichtenlage zeigt, dass weltweit fast alle schweren politischen und militärischen Konflikte und Kriege unserer Tage mit dem Aufbruch des politischen Islam zu tun haben. Meist sind es innerislamische Kriege. In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das noch anders. Im Kalten Krieg waren die Kriege sowjetisch-amerikanische Stellvertreterkriege an der Peripherie der Machtblöcke – in Asien, in Afrika.

Der Krieg des Islam, zwischen Schiiten und Sunniten und als Terror gegen den Rest der Welt, kann nur als Ereignisstrom verstanden werden, der mit Mohammeds Tod im Jahr 632 n. Chr. begann. Dieser sunnitisch-schiitische Krieg mit seinen Heerführern im persischen Teheran und im saudischen Riad (mit mehreren Millionen Toten in den vergangenen Jahrzehnten) wird in der ausreifenden Zeit unserer Tage vollends ausgetragen. Die Kriege der vergangenen Jahrzehnte, etwa die zwischen Iran und Irak mit Millionen Toten, sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Gut denkbar, dass dieser ewige Krieg der Nachfolger Mohammeds letztlich im Zentrum der islamischen Welt, in Mekka, ausgefochten wird. Für die Erzradikalen unter den Sunniten, wie den Islamischen Staat, ist die Verehrung der Kaaba in Mekka Götzendienst. Sie haben sich nicht nur den Marsch gegen den Westen, sondern auch den Marsch gegen Mekka auf die Fahnen geschrieben. Der Krieg des Islam mit sich und gegen die freie Welt ist das Geschehen unserer Zeit, und man versteht es nur im historischen Kontext, als Kontinuum.

Eng damit verbunden ist ein Vorgang, der in der weltlichen Presse nicht sonderlich viel Beachtung findet und sogar von den Kirchen nachlässig zur Kenntnis genommen wird: die Unterdrückung, Vertreibung, Verfolgung, ja die Vernichtung der Christenheit in der islamischen Welt. Meist wird die Christenverfolgung wie ein Kollateralschaden der arabischen Misere zur Kenntnis genommen. Aber auch hier gilt es festzuhalten, dass dies viel mehr als ein tagesaktuelles Ereignis ist. Dass in der arabischen Welt Christen verfolgt werden, ist nicht einfach eine bedauerliche Begleiterscheinung der historischen Umbrüche. Das ist, neben der sunnitisch-schiitischen Konfrontation und dem islamischen Imperialismus, das historisch bedeutsamste Geschehen unserer Zeit.

Mit Mohammed begann die Diskriminierung und Drangsalierung zuerst der Juden, dann der Christen in den ehemals christlich geprägten Ländern. Im vergangenen Jahrhundert mussten zuerst die Juden Pogrome, Mord und Vergewaltigung und Vertreibung erleiden. Von den blühenden jüdischen Gemeinden im Irak ist nichts mehr übrig. Jetzt sind es die Christen, die nach 1300 Jahren prekärer, mehr oder weniger geduldeter Existenz im Schatten des Islam Pogrome erleiden, Mord und Vertreibung, im Irak, in Syrien. Es geht um nichts weniger als einen Genozid. Dieser historische Blick auf das Geschehen fehlt der europäischen Politik völlig. Die Ereignisse in Nordnigeria, zum Beispiel, über die Open Doors berichtet, finden praktisch null Widerhall in den Medien und in der westlichen Politik. Dabei wurden dort von Muslimen innert kürzester Zeit in blutigen Pogromen mehr als 11 500 Christen ermordet, 13 000 Kirchen zerstört oder geschlossen.

Der in einem Schweizer Kapuzinerkloster lebende syrisch-orthodoxe Bischof Dionysos Isa Gürbüz erkennt in dem, was den Christen in der islamischen Welt heute geschieht, den historischen Prozess: «Was uns heute widerfährt, hat vor 1300 Jahren begonnen.» Mit Mohammed und dem Einfall des Islams in die einst christlichen Länder des Nahen Ostens begann das Leiden der Christen, ihre Unterjochung und Vertreibung. Was wir heute erleben, in der Zeit der totalen Beschleunigung historischen Geschehens, ist das Ausreifen dieser Ideologie und der blutige Klimax dieser Entwicklung: die Auslöschung der Christenheit in diesen Ländern.

(Artikelauszug aus factum 04/2016)