Das Vorhandensein von Moral lässt sich ohne Gott schwerlich erklären. Immer mehr Philosophen konstatieren, dass Moral nichts ist, was auf einer gesellschaftlichen Konvention basiert.
Dr. Markus Widenmeyer
22. August 2022

«Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.» Dieser Satz stammt (in etwas verkürzter Form) vom russischen Schriftsteller Dostojewski und ich möchte diese Aussage hier verteidigen. Das, was sie ausdrückt, ist heute alles andere als konsensfähig. So schrieb der atheistische Philosoph Herbert Schnädelbach: «Ein Kollege hat angeregt, diesen Satz auf die Liste der dümmsten philosophischen Sprüche zu setzen. Und zwar ganz oben. Er ist wirklich absurd. Denn das Dumme ist, selbst wenn es Gott nicht geben sollte, darf ich nicht bei Rot über die Ampel fahren, Steuern hinterziehen oder meine Frau schlagen, sollte mir das physisch überhaupt möglich sein.»

Ich finde diesen Einwand nicht überzeugend. Etwas einfach nur als «dumm» oder «absurd» zu bezeichnen, ist selten ein gutes Argument. Was heisst «ich darf nicht»? Zunächst sind solche Verbote in Kraft, weil sie von einer staatlichen Macht erlassen wurden und der Verstoss mit wirksamen Strafen belegt ist. Eine rote Ampel zu überfahren ist kostspielig. Noch empfindlichere Strafen ziehen Gewalttaten oder Steuerhinterziehung nach sich. Aber das hat mit Moral noch nichts zu tun.

Näher kommen wir der Sache, wenn wir uns fragen, was der Fall wäre, wenn unsere Handlungen wirklich ungestraft blieben. Vielleicht sind das Überfahren der Ampel und die Steuer­hinterziehung hierfür ein schlechtes Beispiel. Aber ist es in Ordnung, wenn man zum Spass Kinder tötet, falls man sich sicher sein kann, selbst davon keinerlei Nachteile zu haben? Die allermeisten Menschen dürften dies vehement verneinen.

Das ist die eigentliche moralische Ebene. Hier geht es darum, etwas einfach deshalb zu tun, weil es moralisch richtig ist, oder etwas zu lassen, weil es moralisch falsch ist. Und dabei ist auch keinesfalls so klar, dass für diese moralische Ebene Gott überflüssig wäre. Denn sie verlangt, wenn wir genau darüber nachdenken, nach Objektivität. Schnädelbach meint zu Recht, dass es falsch ist, seine Ehefrau zu schlagen. Nach der Lehre des Korans ist es aber erlaubt. Was nun, wenn, sagen wir in 100 Jahren, sich eine weltweite islamische Revolution durchgesetzt hätte und bald alle im Sinne des traditionellen Islams denken würden? Wäre das Schlagen der Ehefrau dann moralisch in Ordnung? Ich denke nicht. Und ich nehme an, dass Schnädelbach das auch so sieht. Es scheint also moralische Tatsachen zu geben, die eine absolute, unerbittliche Gültigkeit haben und die unabhängig davon in Kraft sind, was Menschen meinen oder fühlen. Solche objektive moralische Tatsachen gelten dabei auch notwendig, was heisst, dass es keine Welt geben kann, in der sie nicht gelten würden. Und sie gelten entsprechend auch zeitlos und universell.

Ich meine, der Atheist Walter Sinnott-Armstrong hat Recht, wenn er aus seiner weltanschaulichen Optik heraus schreibt: «Als der T-Rex herrschte, gab es noch keine Personen, die vergewaltigen oder vergewaltigt werden könnten, aber es war dennoch wahr, dass Personen keine anderen Personen vergewaltigen dürfen. Eine solche moralische Tatsache kann wahr sein auch zu Zeiten, wo niemand da ist, den es betreffen könnte.»

Woher kommt Moral?

Jetzt ist die Frage: Was sind moralische Tatsachen für Dinge? Wo kommen sie her oder als was existieren sie?

Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 05/2022