Rom, Wien, Bologna und Bayern: Pilotprojekte für Sozialkreditsysteme schiessen in Europa wie Pilze aus dem Boden. Freiwillig mitmachende Bürger lassen sich überwachen und erhalten im Gegenzug für «tugendhaftes» Verhalten Punkte, die sie gegen geldwerte Prämien eintauschen können.
Raphael Berger
15. Juni 2022

Ende März kündigte die Stadtverwaltung Bologna das für September geplante Pilotprojekt «Smart Citizen Wallet» an, bei dem Bürger profitieren, wenn sie sich im Sinne der Verwaltung verhalten. Müll trennen, Energie sparen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder Bussgelder vermeiden werden mit Punkten belohnt, die man in attraktive Prämien eintauschen kann. In Rom befindet sich eine solche App bereits in der Versuchsphase. Belohnt wird, wer Verwaltungsdienste online erledigt und Tickets für die Metro bargeldlos kauft. Bald sollen weitere «tugendhafte» Verhaltensweisen prämiert werden. Die Stadt will so die «soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Stadt im Einklang mit den Zielen der Agenda 2030» verbessern. Es geht «um die Schaffung eines neuen Gesellschaftskonzepts, bei dem die Digitalisierung zusammen mit der nachhaltigen Entwicklung und der sozialen und geschlechtsspezifischen Eingliederung einer der Grundpfeiler ist». Dazu will sie «die Menschen, Sensoren oder Maschinen miteinander verbinden».

Wien hat als Vorbereitung für den «Wien-Token» den «Kultur-Token» auf den Weg gebracht. Ab Herbst lassen sich 1000 Teilnehmer mit einer App per GPS überwachen und erhalten für Wege, die sie zu Fuss, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt haben, Punkte und bekommen dafür freien oder vergünstigten Eintritt bei Kulturveranstaltungen. Der Freistaat Bayern hat seit 2019 bereits das «Klimaschutzoffensive – Massnahmenpaket» vorliegen. Hier ist die Rede von einem «Öko-Token», der zur «Förderung von nachhaltigem Verhalten im Alltag mittels Belohnung von umweltbewusstem Handeln» beitragen und «Signalwirkung für Bürger und Unternehmer haben soll». Das System soll heuer eingeführt werden. Umweltbewusstes Handeln generiert Pluspunkte, die bei verschiedenen Partnern eingelöst werden können. Wie sich die Politik in Deutschland den Bundesbürger für das Jahr 2030 vorstellt, lässt sich am Projekt «Vorausschau» erkennen: «Ein Punktesystem als zentrales politisches Steuerungsinstrument bestimmt das Deutschland der 2030er-Jahre. Trotz freiwilliger Basis und demokratischer Spielregeln erzeugt es sozialen Druck zur Teilnahme.»

Gemeinsam ist allen Pilotprojekten, dass sie (vorerst) auf Freiwilligkeit beruhen und negatives Verhalten nicht sanktioniert wird. Dementsprechend erscheinen sie harmlos. Doch spätestens seit der Ausgrenzung nicht Corona-Geimpfter ist bekannt, wie fliessend die Grenze zwischen Freiwilligkeit und Zwang ist und wie man Pseudo-Freiwilligkeit nutzen kann, um Menschen in ihrer Freiheit einzuschränken. Problematisch in diesen Projekten ist, dass von oben (Stadtverwaltung) herab bestimmt wird, was tugendhaftes Verhalten ist und Menschen so geleitet werden, damit sie bestimmten Vorlieben und Wertvorstellungen folgen. Das steht im Widerspruch zu einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft und zu demokratischen Prinzipien.

Quelle: Norbert Häring, Tichys Einblick, reitschuster.de

Meldung aus factum 04/2022