Eine neue Zeit hat begonnen. Weltpolitisches ist mit dem persönlichen Schicksal jedes Menschen kollidiert. Die kommende biopolitische Disziplinargesellschaft hat biblische Relevanz.
Thomas Lachenmaier
13. August 2020

Das christliche Verständnis der Gegenwart speist sich aus dem belastbaren, überzeitlichen Wort der Heiligen Schrift. Dessen prophetische Aussagen haben immer der Wahrheit entsprochen. Darin liegt reicher Trost. Aber als «Herausgerufenen» ist vielen Christen auch bewusst, dass gerade in der Zeit, bevor sich alle Knie vor dem kommenden Heiland werden beugen müssen (vgl. Ps. 22,30; Jes. 45,23; Röm. 14,11; Phil. 2,10–11) eine schwere Zeit kommt. Es wird kein Recht mehr geben – am wenigsten für Christen. Die Auffassung, dass diese Zeit nicht fern ist, teilen meines Wissens alle ernsthaften Bibelausleger.

Nun hat es die Reaktion auf eine Krankheit mit sich gebracht, dass aus dem Bürger unversehens eine potenzielle Gefahrenquelle geworden ist, die entsprechend eingehegt und überwacht werden muss. Der Bürger wurde vom Souverän zum «Disziplinarsubjekt», schreibt der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han in einem Beitrag für «Die Welt». Bereits 2014 hatte Han in dem Buch «Psychopolitik» geschrieben, die Freiheit werde «eine Episode sein». Big-Data-Technologien zur Überwachung, aber auch zur Steuerung des menschlichen Verhaltens stellten unseren freien Willen infrage. Prof. Han: «Der pandemische Schock wird dafür sorgen, dass sich global eine digitale Biopolitik durchsetzt, die sich mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem unseres Körpers bemächtigt; eine biopolitische Disziplinargesellschaft, die auch unseren Gesundheitszustand permanent überwacht.» Als Folge der Pandemie werde «die Hemmschwelle, die es bisher verhindert hat, die Überwachung biopolitisch auf das Individuum auszuweiten», wegfallen. Wir steuern «auf ein biopolitisches Überwachungsregime zu».

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschreibt unsere Zeit in einem Beitrag für die «Neue Zürcher Zeitung» als eine, in der «im Angesicht einer Krankheit» die ethischen und politischen Fundamente unvermittelt implodiert sind. Die «Einheit unserer Lebenserfahrung, die immer zugleich körperlich und geistig ist», sei zerbrochen worden: in eine bloss biologische Einheit und in eine des affektiven, kulturellen Lebens. Der zwiegespaltene Mensch sieht sich gezwungen zu glauben, er könne als Mensch leben, ohne als Mensch zu leben: ohne sich um die alt gewordenen Eltern kümmern zu dürfen, ohne Handschlag, ohne Lied, ohne leiblich-geistigen Austausch, vereinzelt, steril, aber den anderen ein potenzieller Feind, ohne sich in den Armen zu liegen. Er soll bei Androhung von Diskreditierung, Diffamierung und Strafe nicht infrage stellen, was angeordnet wird. Erst dieser Zerbruch der Einheit unseres Lebens habe es möglich gemacht, dass sich Menschen willig der Abschaffung grundlegender Rechte beugen. Prof. Agamben sieht die Schwelle, die die Menschlichkeit von der Barbarei trennt, bereits als überschritten an, «ohne dass man dies bemerkte» oder doch so tat, «als würde man es nicht bemerken».

Die zum Beispiel im deutschen Grundgesetz garantierte Freiheit, sich aus frei zugänglichen Quellen ungehindert zu informieren, wird immer offensiver und rasant fortschreitend eingeschränkt: Nicht nur missliebige Meinungen, auch die Verbreitung von korrekten Fakten wird durch Löschung im Internet zunehmend verhindert. Manipulierte Algorithmen behindern den Zugang zu Informationen immer rigider oder verunmöglichen diesen. Ganz offiziell lautet die Parole, dass Informationen zu verhindern seien, die «nicht stimmen» oder «schädlich» sind. Wer bestimmt, was stimmt? Bei dem Romancier George Orwell war es das Wahrheitsministerium.

Die deutsche Kanzlerin formuliert: «Glauben Sie keinen Gerüchten, sondern nur den offiziellen Mitteilungen»; EU-Ratspräsidentin von der Leyen: «Vertrauen Sie den Gesundheitsbehörden! Vertrauen Sie der Weltgesundheitsorganisation!» Mit einem solch obrigkeitsstaatlichen Pauschalkredit käme man in eine arge logische Bredouille. Bezeichnete die Kanzlerin Gesichtsmasken nicht als «Virenschleudern» – bevor die Ablehnung, solche zu tragen, zur Straftat wurde?  

Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der in den vergangenen Jahrzehnten mit seiner bedachten Art, gesellschaftspolitische Phänomene aus der Sicht seines Faches zu bewerten, angenehm aufgefallen ist, sieht dies im Zusammenhang mit der zunehmend narzisstischen Einstellung, die typisch für unsere Zeit und somit auch für die Eliten sei. In ihrer narzisstischen Einengung hätten die Politiker nur noch ihre «sogenannten ‹rettenden Massnahmen› sehen» können, mit denen sie «unbedingt immer recht behalten müssen und keine Unsicherheit, keine Zweifel, keine Kritik aushalten und zulassen können». Maaz erkennt darin eine «exklusiv narzisstische Symptomatik, die in typischer Weise empathielos für die von den Massnahmen Betroffenen ist und auf das eigene bedeutungsschwere Machthandeln so zentriert bleibt, dass alle wirtschaftlichen, psychologischen, sozialen und finanziellen Folgen verblassen».

Diese Haltung, die man in dieser Weise psychologisch begründen kann, für die es sicher auch politische Gründe gibt, hat Folgen. Die UNO prognostiziert bis Ende Jahr als Folge des Lockdowns eine Verdopplung der Zahl der Hungernden auf 260 Millionen. Weltweit sind bis Mitte Mai 28,4 Millionen Krebsoperationen verschoben worden, allein in Deutschland der «Ärztezeitung» zufolge mehr als 900 000. Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen für Darmkrebs ist über Monate völlig eingebrochen, was ebenfalls tödliche Folgen haben wird. Eine richtige Wirtschaftsdepression bezahlen mehr Menschen mit ihrem Leben, als eine kursierende Krankheit fordert. Niemand wird wissen, wie viele Menschen sich entscheiden, als Folge von Einsamkeit und Ängsten still aus dem Leben  zu scheiden. Werden auch die Zahlen dieses Kollateralschadens als tägliche Bedrohungskurve präsentiert werden? Diese Menschen sterben an Einsamkeit und sie sterben auch einsam. Wer trägt die Verantwortung?

War der «Lockdown» alternativlos? Die wohl renommierteste deutsche  Virologin (Wissenschaftspreise, Bundesverdienstkreuz), Prof. Karin Mölling, die zuletzt in Zürich forschte, mahnte von Beginn an das eigentlich Selbstverständliche an: dass man die Zahlen ins Verhältnis setzen muss, zum Beispiel mit denen der Grippe-Epidemie vor zwei Jahren, an der in Deutschland mindestens 25 000 Menschen starben. Sie sagt: «Ich bin seit 50 Jahren mit solchen Dingen befasst. Was diesmal anders ist, ist die Hysterie.» Auch Prof. Knut Wittkowski, der als Leitender Epidemiologe an der New Yorker Rockefeller-Universität arbeitete, sagt, dass es für die drakonischen Massnahmen keine sachliche Basis gab. Der israelische Mathematiker Prof. Isaac Ben-Israel, Leiter des Nationalen Rats für Forschung und Entwicklung des Wissenschaftsministeriums, dokumentiert nach vergleichender Analyse der Zahlen aus 25 Ländern, dass der Lockdown absehbar falsch war. Bereits vor dem Lockdown waren die Zahlen wieder gesunken.

«Eine Norm, die besagt, dass man auf das Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit zu retten», so der Philosoph Agamben.

Lesen Sie den ganzen Artikel in factum 04/2020.