In unseren Breitengraden gedeiht die postmoderne Überwachungsgesellschaft. Die digitale Transformation bedroht zunehmend Demokratie und Freiheit. Dennoch gibt es kaum Widerstand.
Prof. Dr. Werner Thiede
15. August 2024

Unsere Gesellschaft begibt sich im Zuge der Digitalisierung mehr und mehr in einen Überwachungsmodus. Diese Erkenntnis zeichnete sich schon längst vor jenem bewegenden Jahr 2013 ab, als der Whistleblower Edward Snowden die internationalen Aktivitäten des US-Geheimdienstes NSA aufdeckte. Im Gefolge von George Orwells Roman «1984» gab es diesbezüglich stets eine intuitive Aufmerksamkeit in der Gesellschaft. So hatte im ersten Jahr des neuen Jahrtausends der Whistleblower William Binney die NSA verlassen, weil er die Methoden seines Arbeitgebers nicht mehr als verfassungskonform betrachtete: Ihm zufolge schöpft die NSA nicht nur die Rahmendaten elektronischer Kommunikation ab, wie sie behauptet, sondern speichert darüber hinaus den Inhalt von Telefongesprächen und Mails – insofern einen «totalitären Ansatz» verfolgend. Binney sah damals bereits die reale Gefahr eines totalitären Staates heraufziehen, wie denn später Snowden von einem «schlüsselfertigen Apparat für eine Tyrannei» sprach. Nach US-amerikanischem Recht ist die massive Ausspähung privater Daten von Nicht-US-Bürgern zulässig.

Entkommen ist kaum möglich

Gegenwärtig beginnt sich mit Skynet ein unabhängiges «Mesh-Netzwerk» (engl. to mesh bedeutet ineinandergreifen) zu bilden: Es basiert weniger auf dem Internet als vielmehr auf der Kommunikation von tragbaren, mit Bluetooth LE (Low Energy) ausgestatteten Geräten wie Smartphones, Fitness-Tracker, Smartwatches, Hörgeräten und so weiter. Diese können Datenpakete und Anweisungen empfangen, senden und an andere Geräte weiterfunken, sodass sich Mesh-Netzwerke spontan und dynamisch aufbauen. Unter Einbezug von KI rückt eine totale Überwachung noch näher als bisher. Im Zeitalter des «Internets der Dinge» wird es immer schwieriger werden, den Wahrnehmungen, Messungen, Berechnungen und Speicherungen modernster Technologien in unseren Umgebungen zu entkommen.

Der US-amerikanische Journalist und Anwalt Glenn Greenwald hat auf dem Hintergrund seiner einstigen Zusammenarbeit mit Snowden und seiner umfassenden Materialkenntnis schon vor einem Jahrzehnt gewarnt: Die Umwandlung des Internets in ein Überwachungssystem macht es «zu einem Instrument der Unterdrückung und droht, die schrecklichste und repressivste Waffe staatlicher Einmischung zu werden, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hat». Aber auch in Deutschland blieben entsprechende Warnungen schon damals nicht aus. Man denke zum Beispiel an das Buch der Journalisten Marcel Rosenbach und Holger Stark «Der NSA-Komplex. Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung» (2014). Deren Kollegen Stefan Aust und Thomas Ammann legten unter dem Titel «Digitale Diktatur. Totalüberwachung – Datenmissbrauch – Cyberkrieg» (2014) nach. In der Schweiz warnte 2015 Dirk Helbing als Zürcher Professor für Computational Social Science in einem Digital Manifest vor einer drohenden «Datendiktatur».

Das alles ist nun schon rund ein Jahrzehnt her. Inzwischen gibt es immerhin die Europäische Datenschutz-Grundverordnung, die im Mai 2018 rechtswirksam geworden ist. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das sich aus den allgemeinen Persönlichkeitsrechten herleiten lässt, stellt personenbezogene Daten seither konsequenter unter besonderen Schutz. Freilich ist aus dateninteressierten Kreisen und von deren Förderern hierzu die Kritik zu hören, dies verhindere den Fortschritt und bremse die Wirtschaft aus. Doch Beobachtungen von Datenschutzbeauftragten aus der Praxis in Unternehmen und Behörden legen eher die Annahme nahe, dass selbst die Europäische Datenschutzverordnung nur bedingt vor Überwachung schützt.

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