Freikirchen erkannten den Nationalsozialismus nicht als antichristliche Manifestation des Bösen. Sie huldigten dem Führerstaat. Die Frage bleibt: Was heisst es, Gott mehr zu dienen als Menschen?
Markus Hochuli
14. Februar 2023

Wie haben sich Freikirchen im Nationalsozialismus, und insbesondere gegenüber den Juden in dieser Zeit verhalten? In der Erklärung der Mennoniten von 1995 wird das Beschämende des christlichen Versagens, die niederschmetternde Dimension nur angedeutet: «Die meisten Mennoniten in Deutschland sind, als Ergebnis einer langen Entwicklung, der Anfechtung des Nationalsozialismus erlegen, und sie gaben das Friedenszeugnis auf.»1 Hier soll aufgezeigt werden, wie es dazu kam und welche Erklärungsansätze es gibt. Bei den untersuchten Freikirchen handelt es sich um Adventisten, Baptisten, Brüdergemeinden, FEG, Herrnhuter, Mennoniten, Methodisten, Pfingstgemeinden und Quäker.
Im 19. Jahrhundert verstärkte sich unter Christen ein ambivalentes Judenbild: einerseits mit einem Fluch seit der Kreuzigung von Jesus belegt, andererseits als Segen am Ende der Zeiten vorgesehen. Dies machte den Antisemitismus salonfähig und führte zu der schizophrenen Argumentation, dass die Nazis das Werkzeug Gottes seien und letztlich Israel seiner Bestimmung zuführten. Christen hätten nicht an der Seite der Juden zu stehen; Jesus sei als Israelit oder Nichtjude (Gott der Vater!) geboren – als Gegensatz zum «dekadenten Juden der Gegenwart».2
Der nationalistische Ansatz basierte unter anderem auf den Urvölkern in Genesis 9, demgemäss Semiten zwar Offenbarungen Gottes erhielten, aber nicht umsetzten. Aus Hamiten wären Schwarze (Sklaven) und aus Japhetiten sei eine Herrenrasse, die «Arier», hervorgegangen. Neuheidnische und okkulte Anschauungen spielen bei der Vorstellung einer «arischen Herrenrasse» ebenfalls eine Rolle. In Kombination mit dem Antisemitismus wurde die «Blutreinigung des Volkes» als von Gott gewollt und die Judenverfolgung als heilsgeschichtlich notwendig gesehen.2 Kaum reflektiert übernahmen die Freikirchen die entsprechende theologische Bewertung. So schrieb zum Beispiel Gustav Nagel, Prediger einer FEG: «Juden neigen zu Fleischlichkeit, Lüge und Betrug und stehen deshalb unter dem Verwerfungsgericht Gottes.»2 Plakativ gesprochen: Der Weg der Juden geht gemäss dieser Theologie von 1. Thessalonicher 2,15 (Fluch) über «Mein Kampf» (Hitler) zu Hesekiel 11,17 (Sammlung). Die Mehrzahl der Christen, sowohl in den Grosskirchen wie in den Freikirchen, verkannte, dass es sich beim Führerstaat um eine antichristliche Erscheinung handelte.

1    Voigt KH. Schuld und Versagen der Freikirchen im «Dritten Reich»: Aufarbeitungsprozesse seit 1945: Einführung und Dokumentation. Frankfurt am Main: Verlag O. Lembeck; 2005
2    Heinz D. Freikirchen und Juden im «Dritten Reich»: instrumentalisierte Heilsgeschichte, antisemitische Vorurteile und verdrängte Schuld. Göttingen: V & R Unipress; 2011

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