Der Wirkungskreis seines Pfarramtes im Schweizer Emmental war Albert Bitzius zu klein. Unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf wurde er zum bedeutenden Schriftsteller – und Verkündiger.
Matthias Hilbert
20. April 2021

In der weitläufigen Schweizer Kirchengemeinde Lützelflüh, die im beschaulichen Emmental liegt, wirkt seit 1831 der rührige Pfarrer Albert Bitzius (1797–1854). Er ist ein vielbeschäftigter, engagierter Mann. Besonders die Armen und Waisen sowie das Erziehungs- und Schulwesen liegen ihm auf dem Herzen. Dennoch empfindet er seine Einwirkungsmöglichkeiten als Verkündiger des Wortes Gottes und als christlicher Volkserzieher – denn auch das möchte er sein – als gar zu begrenzt. Er sehnt sich danach, mit seinen Botschaften mehr Menschen zu erreichen – und das weit über das Emmental hinaus. Was auch seinen Grund darin hat, dass er mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen seines Vaterlandes alles andere als zufrieden ist.

Denn die Zeit, in der Bitzius lebt, ist eine Umbruchzeit. Die Ideen der Französischen Revolution und die Herrschaft Napoleons haben auch in dem kleinen Alpenstaat mannigfache Spuren hinterlassen, positive wie negative. Bitzius selbst hatte lange Zeit liberale Vorstellungen vertreten und für Gesellschaftsreformen plädiert. Als dann aber im Land mehr und mehr radikale Liberale Einfluss gewinnen, registriert er mit Sorge, wie sich (auch) unter den neuen, veränderten Verhältnissen Amts- und Machtmissbrauch und hemmungsloses Gewinnstreben manifestieren und vielfach der Eigennutz über den Gemeinsinn triumphiert. Und – schlimmer noch – Albert Bitzius muss wahrnehmen, wie mittlerweile immer mehr Menschen ganz offen die Existenz Gottes in Frage stellen und sich im Volk in einem vorher nicht gekannten Ausmass Gott­losigkeit breitmacht und unter einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff die Unmoral grassiert.

Da hält es der Emmentaler Dorfpfarrer, der inzwischen fast vierzig Jahre alt ist, nicht mehr länger aus. Sein Pfarramt allein genügt ihm nicht mehr. Er greift zur Feder – und wird Schriftsteller! Mit dem gedruckten Wort in Form von volkstümlichen Romanen und Erzählungen bedient er sich eines Mediums, mit dem er sich nun ganz anders gegenüber dem von ihm kritisierten «Zeitgeist» zu Gehör bringen kann als je zuvor.

Und wie er schreibt! Es beginnt mit dem Roman «Der Bauernspiegel». Nach ihm folgen in einer rasanten Taktfolge ein Roman und eine Erzählung um die andere. Und es ist weit mehr als nur Heimatdichtung, die der Schweizer Pfarrer produziert. Er wird tatsächlich zu einem Literaten von Weltgeltung. Sein nicht weniger berühmter Landsmann und Dichter­kollege Gottfried Keller meinte einmal: «Wir müssen bekennen, dass Gotthelf ohne Ausnahme das grösste epische Talent war, welches seit langer Zeit lebte und vielleicht für lange Zeit lebt.»

Albert Bitzius hatte als Pseudonym, unter dem er schrieb, ganz bewusst Jeremias Gotthelf gewählt. Er wollte ja nicht um der Kunst willen dichten, sondern quasi wie ein von Gott beauftragter Prophet seine Stimme erheben und seinem Volk unerschrocken Gottes Willen für ein gelingendes Leben verkünden. Bereits im Vorwort zur zweiten Ausgabe seines Erstlingswerks hatte er geäussert: «Was kann ich dafür, dass es in mir sprudelt und kocht, wenn ich das Glück dieses Ländchens durch selbstsüchtige Leidenschaftlichkeit niedergetreten, durch Frechheit zerstört, durch Laster aufgezehrt, durch schnöde Geldsucht ausgebeutet, durch Unbedachtsamkeit, Rechthaberei und Leichtsinn untergraben sehe? (...) Ich, ein Kind der Freiheit, ein Mann des Wortes, sollte unsere Hausgötter, Freiheit und Frömmigkeit, nicht verteidigen dürfen mit der Schärfe des freien Wortes!»

Obwohl Gotthelfs Romane und Erzählungen sich meistens im dörflichen Milieu abspielen und von Menschen und ihren Schicksalen im 19. Jahrhundert erzählen, so sind sie doch als allgemeingültig und zeitlos zu bezeichnen. Denn auch der Mensch von heute kann sich in ihren prägnanten Charakteren und in der Beschreibung der conditio humana, der menschlichen Verfasstheit, wiederfinden. Die Menschen sind sich ja bis heute gleich geblieben. Und auch heute ist der gesellschaftspolitische Mainstream bestrebt – sogar mehr und offener noch als zur Zeit Gotthelfs – Gottes Gebote als Leitlinien menschlichen Lebens und Handelns zu relativieren oder gar ganz zu eliminieren.  

Lesen Sie den ganzen Arikel in factum 02/2021.