Über Demokratie und Rechtsstaat – und wie in weniger als zwei Jahrzehnten Politik, Kultur, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung ideologisiert werden konnten.
Thomas Lachenmaier
5. Oktober 2021

Demokratie, das ist doch die Herrschaft der Mehrheit, oder? Ganz so einfach ist es nicht. Denn dann wäre im Dritten Reich ja alles in Ordnung gewesen. Hitler kam nicht mit Waffengewalt an die Macht. Das ging alles seinen demokratischen Gang. Die meisten totalitären Systeme entwickelten sich in kleineren oder grös­seren Schritten, lautlos, ohne Gewalt und unspektakulär. Und auch, als Hitler Rechtsstaat und Demokratie in den Lockdown geschickt hatte: War da die Mehrheit gegen ihn? Nein, er konnte auf sie zählen. «Totale Herrschaft ist ohne Massenbewegung und ohne Unterstützung durch die von ihr terrorisierten Massen nicht möglich», hat Hannah Arendt festgestellt.

Nicht die Herrschaft der (verführten) Mehrheit macht aus einem Staatswesen eine tatsächliche Demokratie, sondern Rechtsstaatlichkeit, die Herrschaft des Rechts. Eigentlich ist der politische Wunsch und Wille der Mehrheit ein verlässliches Instrument zur Schaffung stabiler Verhältnisse. Denn die meisten Menschen möchten ganz einfach gut leben, ohne der Willkür ausgesetzt zu sein. Sie wollen in Frieden und Harmonie mit ihrer Familie ihr Leben gestalten und eine gute Arbeit haben. Leider ist der Mensch verführbar, etwa, wenn Politiker ein Arsenal Propagandamittel in Stellung bringen. Deshalb müssen das Recht und die Wahrheit immer verteidigt werden – oft auch gegen die (verführte) Majorität. Die Väter der amerikanischen und der Schweizer Verfassung, wie jene des deutschen Grundgesetzes, wussten, dass der Mensch vor sich selbst geschützt werden muss, dass ihm letztlich nicht zu trauen ist. Das ist eine Folge des jüdisch-christlichen, des biblischen Menschenbildes: Der Mensch ist nicht einfach gut. Der Rechtsstaat gründet auf dem Misstrauen gegen die These vom «Gutsein des Menschen».

Der demokratische Rechtsstaat wurde geschaffen, um die Menschen vor Zweierlei zu schützen. Zum einen vor dem Einzelnen, der die Macht an sich reissen will, vor dem Tyrannen, der dem Götzen der Macht verfallen ist. Zum anderen ist die Herrschaft des Rechts das Mittel, um die Mehrheit vor den Versuchungen zu schützen, denen sie selbst verfallen kann. Der Gehorsam des Bürgers, des Souveräns, gilt in einer rechtsstaatlichen Demokratie deshalb nicht der Regierung, dem Premier, dem Kanzler. Sie gilt dem Recht.

Deshalb sind aus demokratischer Sicht Protest und Widerstand gegen die «Partei und Staatsführung» geboten, wenn diese das Recht verlässt, wenn sie der Unvernunft erlegen ist, wenn sie Widersinniges bestimmt. Der amerikanische Erkenntnistheoretiker Sergio Caldarella weist darauf hin, dass es kein Zufall ist, «dass die Verfasser des (deutschen) Grundgesetzes, wohl wissend um die geschichtlichen und politischen Ereignisse, aber auch um die rechtlichen Rahmenbedingungen, die zur Katastrophe des Zweiten Weltkrieges geführt hatten, das Widerstandsrecht des Art. 20 in die Verfassungsgrundsätze einführten». Widerstand gegen Unrecht des Staates ist gewissermassen ein Gebot des Grundgesetzes.

Und es ist ebenso wenig ein Zufall, so Caldarella, dass eine Regierung, die mit der Einführung des Ausnahmezustandes de facto bereits die Demokratie ausgesetzt hat, dazu neigt, diesen grundlegenden Artikel abzulehnen, zu minimieren oder gar aufzuheben. Er beschreibt auch die Mittel einer solchen Regierung, die so vorgeht: «Es wird dann die systematisch betriebene Überredung und Verängstigung des Bürgers durch mediales Hämmern ständiger Botschaften sein, (...) um die Möglichkeit einer Aussetzung der Demokratie anzubieten. Eine brillantere, kreativere und koordiniertere Technik zur Aussetzung der Demokratie ist schwer vorstellbar.»

Eigentlich schützt ein austariertes System der Gewaltenteilung in einem Rechtsstaat den Menschen vor dem Menschen – auch vor dem, der die Regierungsgewalt innehat. Die Regierung, die ausführende Gewalt, hat die Macht nur auf Zeit. Sie wird vom Parlament kontrolliert. Eine unabhängige Justiz wacht über der Einhaltung der Regeln, jeder kann sie anrufen. Es ist wichtig, dass jede dieser drei «Gewalten» ihre Aufgabe kennt und wahrnimmt. Die Aufgabe des Parlaments ist es nicht, die Regierung zu unterstützen. Es beauftragt die Regierung und muss sie kontrollieren und vor Anmas-sung bewahren. Es repräsentiert den Willen des Souveräns, der einzelnen Bürger. In der repräsentativen Demokratie ist die Regierung nicht mehr als das ausführende Organ, beauftragt vom Souverän, der von den Abgeordneten repräsentiert wird. Politiker vergessen gerne, dass sie die Angestellten der Bürger sind.
Rechtsstaaten haben Machtbremsen für Politiker eingebaut, die sich für «die höchste Instanz halten». In Deutschland war das, eine Lehre aus der Erfahrung der Nazi-Barbarei, vor allem anderen die strikt föderale Verfassung. Dann eine unabhängige, nicht weisungsgebundene Justiz. Und dann ist da noch diese «vierte Gewalt», die Presse. Alle diese rechtsstaatlichen Sicherungen sind in westlichen Demokratien derzeit gefährdet oder bereits zu Teilen kollabiert, wie in Deutschland. Aber der Reihe nach.

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