Frankreich verliert seine jüdische Bevölkerung. Juden können hier nicht mehr sicher leben. Eine junge Mutter von vier Kindern berichtet, warum sie mit ihrer Familie nach Israel ausgewandert ist.
Joachim Schroeder & Sophie Hafner
5. April 2019

Im Herbst 2015 reisten die beiden Filmemacher Joachim Schroeder und Sophie Hafner nach Israel und in den Gazastreifen, um dort Interviews für ihren Dokumentarfilm «Auserwählt und ausgegrenzt: Der Hass auf Juden in Europa» zu führen. Sehr bedauerten sie später, dass sie eines der Interviews, die sie am meisten bewegten, aus Platzgründen nicht in den Film aufnehmen konnten: das mit Anaëlle Guedj, einer jungen Mutter von vier Kindern, die drei Monate zuvor mit ihrer Familie nach Israel ausgewandert war, als eine von 7000 französischen Juden, die 2015 angesichts des in Frankreich grassierenden Antisemitismus nach Israel auswanderten. Das Filmteam traf sie in einer Sprachschule in der Küstenstadt Netanya, die wegen der vielen dort lebenden Franzosen auch die «israelische Riviera» genannt wird. In dieser Sprachschule hatte Guedj etliche Wochen zuvor angefangen, Hebräisch zu lernen. Das Gespräch vor laufender Kamera fand am 2. Dezember 2015 statt, knapp drei Wochen nach dem Massaker in Paris vom 13. November und rund zehn Monate nach den Morden in den Büros von Charlie Hebdo und in einem koscheren Supermarkt in Paris. factum dokumentiert dieses Interview, das nichts von seiner Aktualität verloren hat.

factum: Von wo aus Frankreich kommen Sie, und seit wann sind Sie hier?
Anaëlle Guedj: Ich komme aus Toulouse, habe aber mit meiner Familie seit fünf Jahren in Paris gelebt. Wir sind Anfang August in Israel angekommen. Wir sind nun also seit vier Monaten hier.

factum: Bitte schildern Sie, warum Sie und Ihre Familie nach Israel ausgewandert sind.
Guedj: Ich bin mit meinem Ehemann und unseren vier Kindern hierhergekommen. Mein Mann hatte immer schon hierherkommen wollen, schon vor zehn Jahren. Ich aber hatte Angst vor dem Leben in Israel. Dann kamen die furchtbaren Ereignisse in Frankreich der letzten Jahre, angefangen mit Toulouse. Dazu kam ein konkreter Anlass: An einem Tag im letzten Jahr, als ich meinen Sohn von der Schule abholte, hatte er Angst, seine Kippa aufzubehalten, und hat sie abgelegt. Da habe ich zu meinem Mann gesagt: «Es gibt für unsere Kinder in Frankreich keine Zukunft – also können wir unseren Traum verwirklichen und nach Israel gehen.»

factum: Wie alt ist Ihr Sohn, und wovor genau hatte er Angst?
Guedj: Mein Sohn ist jetzt acht Jahre alt, damals war er also sieben. Er ging zu einer jüdischen Schule. Als er das Schulgebäude verliess, sah er sich nach allen Seiten um. Er sah, dass dort viele Leute waren, und hatte Angst. Er hat mir gesagt: «Ich kann die Kippa auf der Strasse nicht aufbehalten. Ich muss sie abnehmen.» Ich sah, dass er ständig und überall Angst hatte. Da wurde mir klar, dass sich Frankreich geändert hat und wir die richtige Entscheidung für die Zukunft unserer Kinder treffen müssen.

factum: Sie sagen, Frankreich habe sich verändert ...
Guedj: Ja.

factum: ... Ihr Mann wollte Frankreich schon vor zehn Jahren verlassen. Was hat sich in der Zwischenzeit Ihrer Meinung nach geändert?
Guedj: Als ich noch zur Schule ging, vor 14 Jahren, hatte ich keine Angst davor, die Metro zu nehmen oder 15 Minuten zu Fuss zu gehen, auch wenn es schon spät am Abend war. Während meines Studiums hatte ich keine Angst davor, mit Freunden zusammen auszugehen – obwohl ich Jüdin bin und jeder das aufgrund meines Namens hätte wissen können. Jetzt aber hatte ich Angst davor, auszugehen. Mir fiel auf, dass die Leute jüdische Menschen auf andere Weise ansahen als früher. Ich denke, es gibt ein Problem mit Muslimen in Frankreich – nicht mit allen Muslimen, ich stecke nicht alle Muslime in dieselbe Schublade. Ich habe mit Muslimen zusammengearbeitet; während meines Studiums der Politikwissenschaft habe ich zum Thema Religionen geforscht. Aber ich glaube, die Regierungen in Frankreich haben nicht genug getan, um die Juden zu schützen. Jetzt tun sie das. Jetzt, wo es sie selbst getroffen hat, begreifen sie, was wir Juden seit vier Jahren jeden Tag durchmachen.

Die Anschläge in Toulouse (ein muslimischer Terrorist überfiel eine jüdische Schule und erschoss vier Menschen) haben mich persönlich sehr bewegt, auch weil ich der Familie (von Rabbi Yaacov Monsonégo, dem Schulleiter der Ozar-HaTorah-Schule in Toulouse, dessen achtjährige Tochter Miriam am 19. März  in eben jener Schule von Mohammed Merah mit mehreren Kopfschüssen gezielt ermordet wurde; Anm. d. Red.) sehr nahestehe. Als ich in der Zeitung ein Foto des Terroristen sah, wie er fröhlich lachte, war ich verstört: Warum haben sie gegen jemanden, der bereits so viel Schreckliches getan hatte, nichts unternommen?

Bevor ich nach Israel kam, habe ich in Paris in einer Schule gearbeitet. Durch den Anschlag auf Charlie Hebdo haben sie [die Behörden] kapiert, wie sie die jüdische Gemeinschaft beschützen müssen, weil sie sich nun selbst schützen müssen. Aber das reicht nicht aus. In den letzten Jahren sah ich Soldaten vor jeder jüdischen Schule, jeden Tag. Wir mussten mit ihnen zusammenarbeiten, damit sie unsere Schüler, unsere Kinder beschützen. Das ist kein angenehmes Leben in Frankreich, nicht für uns und nicht für unsere Kinder. Ich denke, es hat eine grosse Veränderung stattgefunden. Selbst wenn sie sagen, dass die französischen Juden ihren Platz in Frankreich hätten, so glauben sie doch nicht selbst daran. Und sie unternehmen nichts, um uns in Frankreich zu halten – so sehe ich das.

factum: Wie würden Sie die Haltung der französischen Mehrheitsgesellschaft beschreiben, der gewöhnlichen Bürger, die keine Muslime, sondern Christen oder Atheisten sind?
Guedj: Ich denke, sie haben Angst. Sie begreifen, dass Frankreich nicht ihnen gehört. Als ich vor einem Monat noch einmal in Frankreich war, da sagte mir ein Arzt: «Sie haben einen Ort, wohin Sie gehen können.» Ich hatte in Frankreich gute jüdische Freunde, ich hatte muslimische Freunde. Auch die Muslime identifizieren sich nicht mit den Terroristen, doch es wird nichts unternommen. Worte, aber keine Taten. Niemand in Frankreich, so scheint es mir, weiss, was man tun soll. Sie haben Angst um sich, um ihre Kinder, und sie wissen, dass [die Terroristen] an jedem Ort angreifen können: im Bataclan wie vor zwei Wochen, im Stadion, überall. Nirgendwo ist man geschützt. Selbst in dein Haus können sie eindringen, selbst in die Kirche. Es ist, wie wenn jemand in der Wildnis ist und bei jedem Schritt, den er macht, ängstlich überlegt, wohin er wohl tritt – genauso ist es jetzt in Frankreich, meiner Meinung nach.

Lesen Sie das ganze Interview in factum 03/2019.