Der Zustrom Hunderttausender überfordert Politik und Gesellschaft. Was sagt die Bibel über den Umgang mit dem Fremden? Sie hilft zu einem klaren Blick auf die Situation.
Thomas Lachenmaier
9. Januar 2016

Hunderttausende Menschen aus der islamischen Welt sind nach Europa gekommen, Hunderttausende werden noch kommen. Die humanitäre und politische Bewältigung sind für Politik und Gesellschaft offenbar eine Überforderung. Viele Menschen ängstigt der Zustrom der Menschen aus einer fremden Kultur und einer anderen Religion. Den Zuwanderern begegnet hier Hilfsbereitschaft, aber auch Ablehnung und Hass.

In den oftmals herzzerreissenden Schicksalen erkennen Christen eine persönliche Herausforderung. Hier wird die biblische Aufforderung zur Nächstenliebe konkret. Neben dieser persönlichen gibt es aber auch eine politische, gesellschaftliche und religiöse Dimension des Geschehens. Wie viel Zuwanderung kann eine Gesellschaft verkraften? Was müssen Zuwanderer an Integrationsbereitschaft mitbringen?

Die Heilige Schrift soll der Massstab unseres persönlichen Handelns sein. Sie definiert aber auch unsere Rolle in der Gesellschaft. Kann die Bibel in dieser konkreten Situation zur Richtschnur unseres Handelns werden? factum sprach darüber mit Dr. Markus Zehnder, Professor für Bibelwissenschaft an der Ansgar Teologiske Høgskole in Norwegen, Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Leuven und Titularprofessor für Altes Testament an der Uni Basel.

factum: Sehr geehrter Herr Prof. Zehnder, das Elend in Syrien ist den Menschen in Europa mit einem Schlag nahe gerückt. Mit den Zuwanderern bekommt die Not dieser Länder, aber auch die wirtschaftliche Misere der Balkanstaaten ein Gesicht. In Deutschland wird erbittert über dieses Thema diskutiert.  Wie nehmen Sie diese Diskussion von aussen wahr?

Prof. Markus Zehnder: Ein Problem stellt bereits die Verwendung der Begriffe dar. Sehr oft wird pauschal von «Flüchtlingen» gesprochen. Diese Bezeichnung ist aber in vielen Fällen irreführend. Ich verwende häufiger den Terminus «Migranten», weil er der neutralste ist («Wandernde»). Er ist  geeignet, als Oberbegriff für alle Arten von Menschen zu dienen, die sich aus unterschiedlichen Gründen von einem Ort aufmachen, um sich auf Dauer oder wenigstens längere Zeit an einem anderen Ort niederzulassen.

Im Einzelnen muss man zwischen den Ursachen der Wanderung, den Motiven und Zielen der Wandernden unterscheiden. Dass die Verwendung des Terminus «Flüchtlinge» im Blick auf die gegenwärtige Masseneinwanderung nach Europa falsch ist, lässt sich schon daran erkennen, dass die meisten Migranten aus sicheren Drittstaaten aufbrechen und dann innerhalb der sicheren Grenzen Europas keineswegs damit zufrieden sind, in Staaten wie Griechenland oder Kroatien zu bleiben, sondern in aller Regel in Länder weiterziehen wollen, in denen die staatlichen Versorgungsapparate voll ausgebaut und zugänglich sind.

factum: Wie wird die Situation in Norwegen, wo sie leben, diskutiert?

Zehnder: Ende Oktober kamen 1000 bis 2000 Asylsuchende pro Woche nach Norwegen. Offiziellen Schätzungen zufolge sind es mittlerweile 2000 bis 3000 wöchentlich. Seit einigen Monaten kommen sie auch über die russisch-norwegische Grenze. Letzteres wäre übrigens ohne eine direkte Involvierung der russischen Behörden nicht möglich. Es gibt einige kritische Stimmen gegenüber der hohen Zahl im Land ankommender Migranten. Aber die Debatte ist insgesamt nicht allzu deutlich, was auch mit den Nachwirkungen des Breivik-Attentats vor vier Jahren zusammenhängt. Ebenfalls ist es so, dass die Norweger ihr Land als reiches Land verstehen, das deshalb eine besondere Verantwortung hat, überall zu helfen. Diese Sicht vertreten eine Mehrheit sowohl der Christen wie der Nichtchristen.

factum: Es gibt eine menschliche, aber auch eine politische und gesellschaftliche Ebene des Geschehens und wohl auch eine sicherheitspolitische Dimension. Es ist ein Dilemma, auch in einem moralischen Sinn. Kann man mit dieser Situation überhaupt «richtig» umgehen? Auch mancher Christ sieht sich in einer Zwickmühle. Wie kann uns die Bibel hier eine Hilfe sein?

Zehnder: Die Bibel hilft, die Wahrnehmung zu schärfen, einen Blick für historische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge zu bekommen, ethische Grundlagen zu finden und aus dem Wirken Gottes in der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Das alles aber setzt voraus, dass man sich umfassend mit der Bibel vertraut macht und nicht einfach ein, zwei Stellen herauspickt und diese dann eins zu eins auf die heutige Situation überträgt.

Nicht wenige Christen stehen in der Gefahr, die Dimensionen, die über die unmittelbar zwischenmenschliche Ebene hinausgehen, zu übersehen. Das hat aber fatale Folgen.

(Artikelauszug aus factum 09/2015)